Das Liebes-ABC & Ich möchte kein Mann sein
DAS LIEBES-ABC & ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN
Zwei Stars der frühen Stummfilmzeit in temperamentvollen Hosenrollen: Asta Nielsen macht in Männerkleidung ihrem Verlobten vor, wie sich ein Mann in Liebesdingen zu verhalten habe. Sie trinkt und verführt Frauen. Die rebellische Ossi (Ossi Oswalda) wiederum feiert, unerkannt in Frack und Zylinder, wild mit ihrem Hauslehrer. Die Protagonistinnen beider Filme stellen die Genderkonventionen in Frage, um für ihre Freiheit einzustehen. Das leichtfüßige Spiel mit Geschlechterrollen dient der Emanzipation und der Erfüllung des eigenen Verlangens.
DAS LIEBES - ABC
R: Ernst Lubitsch, D: Ossi Oswalda, Curt Goetz, Ferry Sikla, D 1918, 45‘
ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN
R: Magnus Stifter, D: Asta Nielsen, Ludwig Trautmann, Magnus Stifter, D 1916, 51‘
EINFÜHRUNG ZU DEN FILMEN
DAS LIEBES-ABC & ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN
Johanne Hoppe,
Filmwissenschaftlerin
In DAS LIEBES-ABC von 1916 mit Asta Nielsen und ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN mit Ossi Oswalda von 1918 sehen wir zwei Stars der frühen Stummfilmzeit in temperamentvollen sogenannten Hosenrollen. Beide Protagonistinnen stellen Genderkonventionen in Frage, um für ihr Begehren und ihre Freiheit einzustehen. Da die Filme auf einem binären Konstrukt von Geschlecht beruhen, bediene ich mich hier einer binären Geschlechtersprache, mit dem Bewusstsein, dass diese weder unserer heutigen noch der damaligen Realität entspricht.
Die Schauspielerin Asta Nielsen finanzierte DAS LIEBES-ABC mit sieben weiteren Filmen selbst. Die Dreharbeiten fanden im Union-Atelier in Tempelhof – damals noch Tempelhof bei Berlin – statt. Premiere war am 16. August 1916 im Berliner Marmorhaus. Die Originalnegative von DAS LIEBES-ABC wurden kurz nach den Dreharbeiten bei einem Brand im Kopierwerk vernichtet. Vom Film ist im Dänischen Filminstitut ein Duplikatnegativ erhalten. Die digitale Rekonstruktion dieser Kopie erfolgte 2011 durch die Stiftung Deutsche Kinemathek und das Dänische Filminstitut.
Die Kritik nahm den Film, der von der Filmzensur mit Jugendverbot belegt worden war, sehr positiv auf. Die Erste Internationale Filmzeitung schreibt 1916: »Das Liebes-ABC gibt Asta Nielsen Gelegenheit, sich in einer Hosenrolle zu zeigen. Sie weiß einen jungen, beschwipsten Lebejüngling glänzend zu karikieren.« Gefeiert werden Nielsens „köstlicher Humor“ und ihre beeindruckende Verwandlungskunst.
Asta Nielsen, der erste internationale Filmstar überhaupt und in vielerlei Hinsicht der Inbegriff der Neuen Frau, spielt mit 35 Jahren den großbürgerlichen Backfisch Lies im Teenager-Alter. Eine Besetzung mit solcher Altersdifferenz zwischen älterer Schauspielerin und deutlich jüngerer Figur ist nicht ungewöhnlich für Asta Nielsen, die – vom Theater kommend – ihre Filmkarriere erst mit 29 Jahren begonnen hatte. Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Die von ihr gespielte Lies träumt von eleganten und verführerischen Liebhabern. Doch der für sie vorgesehene, schüchterne und offensichtlich unerfahrene Verlobte enttäuscht ihre Erwartungen zutiefst. „Ist er wirklich ein ganzer Kerl, Papa?“ fragt sie ihren Vater, nachdem sie ihren Zukünftigen mit rollenden Augen von oben bis unten gemustert hat. Hier kehrt sich eine Geschlechterrolle um: Der Mann wird zum passiven Objekt, das vom weiblichen Blick untersucht und sogar für nicht genügend befunden wird.
Lies unternimmt mit ihrem Verlobten alsbald einen Ausflug in die nahegelegene Hauptstadt. Um ihm zu zeigen, wie sich ein Mann zu amüsieren hat, schlüpft sie selbst in Männerkleidung und macht mit ihm einen drauf. Protzig nimmt sie männliches Rollenverhalten aufs Korn, überzeichnet fast die Figur eines – heute würden wir sagen Mackers – und hat damit großen Erfolg bei den sie umgebenden Damen. Ihr Unbehagen mit der Rolle wächst jedoch proportional mit den auf sie abzielenden Flirtversuchen.
Asta Nielsens Spiel als männliche Figur ist selbstverständlich und oft grotesk. Mit zahlreichen Grimassen und einer exzentrischen Körpersprache lehnt sich Nielsen offensichtlich genussvoll gegen vergeschlechtlichte Konventionen auf. Mit ihrer großen Bandbreite von Ausdrucksformen weiblicher Körperlichkeit überschreitet sie tradierte Bilder von Weiblichkeit. Bereits in zwei vorangegangen Filmen hat sie Männerrollen eingenommen. 1920 wird sie sich die Figur des Hamlet aneignen und neu interpretieren. Während es in den 1910er Jahren zahlreiche Hosenrollenkomödien gibt, wird Hamlet der erste Versuch sein, das Thema in einem ernsteren Rahmen zu behandeln.
Von 1916 bis 1920 realisierten Ossi Oswalda und Ernst Lubitsch zwölf Filme miteinander. ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN war ihre achte Zusammenarbeit und wurde 1918 im Union-Atelier in Tempelhof gedreht, im gleichen Studio wie DAS LIEBES-ABC. Die gezeigte Fassung geht auf Material aus dem Bundesarchiv zurück, das 2013 durch die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung digitalisiert wurde.
Auch dieser Film erhielt von der Berliner Filmzensur ein Jugendverbot und hatte seine Premiere am 1. Oktober 1918, kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs und wenige Wochen, bevor in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Schon früh war die Filmkritik von Lubitschs Komödien begeistert, so auch von dieser. „Ossi Oswalda entzückte durch ihr sprudelndes Temperament, ihre überschäumende Laune und ihre schelmische Koketterie“ schreibt der zeitgenössische Film-Kurier.
Aus heutiger Sicht interessant sind die zahlreichen Berliner Außenaufnahmen z.B. vom U-Bahnhof Wittenbergplatz.
Die rebellische Ossi raucht, trinkt, flirtet und spielt Poker. Diese als männlich gelesenen Eigenschaften eignet sie sich bereits an, bevor sie sich in Frack und Zylinder kleidet. Doch schnell macht ihr Umfeld ihr klar, dass sie zahlreiche Privilegien bezüglich persönlicher Freiheit als Frau nicht besitzt. Wütend fragt sie sich „Warum bin ich nicht als Junge zur Welt gekommen?“ und lässt sich einen Frack schneidern, um sich den Erziehungsversuchen ihrer Gouvernante und ihres Hauslehrers zu widersetzen. So ausgestattet besucht sie ein Tanzlokal, wo sie unerkannt mit eben jenem Hauslehrer ausgelassen feiert. Es kommt zu mehr als einem Kuss zwischen den beiden. Die scheinbare Homosexualität drückt eine selbstverständliche Versuchung aus, die nur von der karikaturistischen Darstellungsweise der Komödie gebrochen wird. In dieser Hinsicht nimmt Ich möchte kein Mann sein nicht nur das Thema, sondern auch den Ton von Reinhold Schünzels VIKTOR UND VIKTORIA vorweg.
Das Crossdressing fungiert hier als Mittel zur Freiheit und offenbart die unterschiedliche Verteilung gesellschaftlicher Privilegien. Ossi stellt im Frack einerseits fest, dass „so ein Mann es auch nicht leicht hat“ – schließlich fallen Annehmlichkeiten wie ein Sitzplatz in der Straßenbahn oder das Tür Aufgehalten bekommen nun weg und auch das Binden einer Krawatte birgt so seine Tücken. Andererseits reizt sie die neugewonnen Möglichkeiten voll aus. Getreu dem Motto „Was kostet die Welt“ nimmt sie klassische Männerbilder auf’s Korn, flirtet intensiv mit Frauen und tanzt wie wild, bis sie im Strudel der weiblichen Begehrlichkeiten vor Schwindel kurz umfällt. Ossi Oswaldas Spiel ist, anders als das von Asta Nielsen, weniger grotesk und viel mehr leichtfüßig und beschwingt, fröhlich und keck. Sie nimmt einen weniger „männlichen“ Habitus an und konstruiert so ein anderes, hybrides Bild von Geschlecht und Geschlechterperfomance. Als Publikum sehen wir Hinweise auf entsprechende Brüche in Form von hohen Absätzen und entblößten Fußknöcheln oder, wenn Ossi sich die Nase pudert.
Beide Filme gehören dem damals populären Genre der Crossdressing-Komödie an. Dieses Genre geht der Homosexuellenbewegung und den gesellschaftlichen Freiheitsbestrebungen der Weimarer Zeit voraus. Vom Zeitgeist der 1920er Jahre zeugen die zahlreichen und beliebten Lesben- und Schwulenbars, lesbische und schwule Zeitschriften wie Die Freundschaft, Die Freundin, Blätter für Menschenrechte, Garçonne u.a. Der 1922 erschienene und schnell verfilmte Roman La Garçonne von Victor Margueritte prägte den lesbisch gelesenen Garçonne-Look der 1920er Jahre mit Bubikopf, korsettfreier Kleidung, Krawatten und Monokel. Merkmale, die wir in beiden Filmen bereits deutlich zu sehen bekommen.
Pionier und Wegbereiter für die Infragestellung binärer Geschlechterkonstruktionen war der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld. Der schrieb schon 1914: „Wir verstehen unter sexuellen Zwischenstufen Männer mit weiblichen und Frauen mit männlichen Einschlägen.“ Unter dieser Prämisse machte er anhand körperlicher Merkmale, Charakter und Begehren eine unendliche Anzahl von „Sexualtypen“ aus. Dabei verstand er die unterschiedlichen Ausprägungen nicht als krankhafte Abweichungen von einer Norm, sondern begriff Homosexualität als Teil eines erweiterten Normalitätsspektrums. Sein Kampf gegen den die Homosexualität kriminalisierenden § 175 des Strafgesetzbuches lässt sich in Richard Oswalds Spielfilm ANDERS ALS DIE ANDEREN nachvollziehen.
Hirschfelds Arbeit ist von elementarer Bedeutung, wenn wir heute auf das Filmerbe dieser Zeit schauen und uns mit zeitgenössischen Genderkonstruktionen befassen. Das Crossdressing in DAS LIEBES-ABC und ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN dient als Instrument der Emanzipation, das leichtfüßige Spiel mit Geschlechterrollen der Erfüllung des weiblichen Begehrens und stellt darüber hinaus eine vielleicht wehmütige Vorstellung eines vielfältigeren Begehrens in den Raum.
Beide Filme enden mit der Rückkehr in die Heteronormativität. Das ist nicht nur einer zu befürchtenden Filmzensur geschuldet, sondern auch den gesellschaftlichen Dynamiken in Kriegs- und Krisenzeiten hin zu Normativität und Altbekanntem. Das kennen wir – leider auch aus nicht abreißenden aktuellen Zusammenhängen. Nichtsdestotrotz bleiben die Bilder von Asta Nielsen und Ossi Oswalda, wie sie männliche Domänen herausfordern, sich aneignen und komödiantisch auswerten, als subversive Strategien für den Umgang mit patriarchalen Mustern erhalten. Beide Filme stellen in Aussicht, Genderkonventionen zu entkommen und weder „männlich“ noch „weiblich“ performen zu müssen. Kurzzeitig entspannt sich die herrschende Ordnung des Patriarchats.
Dr. Johanne Hoppe
Johanne Hoppe ist Filmhistorikerin und -kuratorin. Von 2014 bis 2024 war sie wissenschaftlich-künstlerische Mitarbeiterin am Filmmuseum Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Feminismus und Film, der kritische Umgang mit NS-Filmerbe Queer Cinema und lokale Kinogeschichte. Im Jahr 2020 promovierte sie mit einer Arbeit zur Diskursgeschichte des NS-Films nach 1945. Sie ist Mitbegründerin von TOP GIRL - einem Kinokollektiv aus Berlin und Brandenburg, das sich dafür einsetzt, feministisches Filmerbe sichtbarer zu machen.
M: johanne.hoppe(at)posteo.de
Gezeigt und vorgetragen im Rahmen des 1. Filmerbe-Festivals "Als QUEER schwarz-weiß war" im Filmmuseum Potsdam im Jahr 2024