Michael & Vorfilm: Vingarne (Ikarus)

Michael 1924 03 SDK

MICHAEL & VINGARNE (IKARUS)



Ein Maler, der schöne Jüngling, der ihm Modell steht, und eine skrupellose Adlige, das sind die Protagonist*innen einer Dreiecksgeschichte, die tragisch enden muss: Der junge Mann kann die Liebe des Malers nicht erwidern und fühlt sich stattdessen hingezogen zur Fürstin, die für ihn nicht nur Geliebte, sondern auch Komplizin ist.
Carl Theodor Dreyer erzählt in diesem opulent ausgestatteten Kammerspiel vom Niedergang des Adels um die Jahrhundertwende und von der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft. "Ein Film voll Donner heraufziehender Veränderungen. Wie die Kunst, um die Jahrhundertwende, durch den Einbruch der Sexualität in ihrer Basis getroffen wurde.“ (Frieda Grafe)

MICHAEL
R: Carl Theodor Dreyer, D: Walter Slezak, Benjamin Christensen, Nora Gregor, D 1924, 94‘

Vorfilm: VINGARNE (Ikarus)
R: Mauritz Stiller, D: Egil Eide, Lars Hanson, Lili Bech, S 1916, 13‘ (Ausschnitt)
Einführung: Michael Fürst (Filmmuseum Potsdam)


EINFÜHRUNG ZU DEN FILMEN 

MICHAEL & VINGARNE

Dr. Michael Fürst
Direktor des Filmmuseum Potsdam

Zunächst sehen Sie einen Ausschnitt von etwa 15 Minuten aus dem Film „Vingarne“ („TheWings“/„Ikarus“) des schwedischen Regisseurs Mauritz Stiller von 1916 und anschließend Carl Theodor Dreyers „Michael“ aus dem Jahr 1924 in voller Länge. Beide Filme basieren auf dem 1904 erschienenen Roman „Mikael“ („Michael“) des dänischen Autors Herman Bang, dessen Werke seinerzeit viel gelesen wurden und der als Dandy einen recht offenen Umgang mit seiner Homosexualität pflegte, was nicht überall gut ankam. Im Zentrum der Erzählung steht das Verhältnis zwischen einem erfolgreichen und gesellschaftlich anerkannten älteren Künstler und einem jüngeren Mann, dessen künstlerische Laufbahn noch am Anfang steht. Das reife Genie erklärt den jungen Mann zu seiner Quelle der Inspiration und zu seinem Ziehsohn, der damit zum alleinigen Erbe des großen Künstlers wird. Dieses vermeintlich harmlose Verhältnis von Lehrer und Schüler bzw. Vater und Sohn wird jäh durch eine Prinzessin bzw. Fürstin gestört, die die gesamte Aufmerksamkeit des Schülers auf sich zieht. So entsteht eine komplizierte Dreiecksbeziehung, in der sich das heterosexuelle Liebesverhältnis allerdings als problematisch herausstellt, da die Prinzessin offenbar mittellos ist und vor allem am Geld ihres Liebhabers interessiert zu sein scheint. Das Begehren des wohlhabenden Künstlers hingegen richtet sich auf den jungen Mann, an dessen Körper er sich erfreut und dem gegenüber er sich besonders großzügig zeigt, da er ihn finanziell und ideell unterstützt. Man könnte ihn auch als enttäuschten „Sugar-Daddy“ bezeichnen, dessen „Toy Boy“ ihm keine Gegenleistungen erbringt, mit Ausnahme des Modellstehens. 

Das bringt mich auf einen Aspekt, der beide Filme prägt: Der Künstler schafft Werke von besonderer Lebendigkeit - als Statue und als Gemälde -, die so naturalistisch sind, dass das Modell sofort zu erkennen ist. Damit beschwören die Filme den antiken Künstlermythos vom Bildhauer Pygmalion, der sich aus reiner Imagination eine weibliche Marmorstatue erschafft, die unter seinen Händen und der Unterstützung der Göttin Venus lebendig wird.

In „Vingarne“ und „Michael“ ist es etwas anders: Der Künstler, der sich nach dem jungen, männlichen Körper sehnt, nimmt ihn zum Vorbild für eine Statue bzw. ein Gemälde, darin unterscheiden sich beide Filme. Es ist ein verkehrter Pygmalion, denn sein Kunstwerk wird nicht lebendig, sondern bleibt Stein oder Leinwand - die Kunst wird zum Ersatz für das lebende Vorbild, eine Art Doppelgänger. In beiden Fällen ist das Modell ganz oder fast unbekleidet. Diese Ateliersituation ist im künstlerischen Kontext einer akademischen Ausbildung nicht ungewöhnlich, zugleich aber auch erotisch aufgeladen. Man stelle sich nur die zahlreichen Stunden vor, die das Künstlergenie auf diesen Körper starren muss, um eine Statue oder ein menschengroßes Gemälde zu erschaffen, aber dieser Körper ihm nur vermittelt über das von ihm selbst geschaffene Ebenbild zugänglich wird. Der Topos des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, auf den die Filme damit Bezug nehmen, geht ebenfalls auf die griechische Antike zurück und gehört etwa seit dem 18. Jahrhundert zum festen Bildrepertoire für die Darstellung männlicher Homosexualität.

In „Vingarne“ und „Michael“ wendet sich das Objekt der Begierde jedoch vom Meister - so wird er in den Filmen tatsächlich genannt - ab und nutzt ihn aus. Hier drängt sich mir eine interessante Parallele zu einem anderen queeren Film auf, der sich fest in die Filmrezeption eingeschrieben hat: In „The Rocky Horror Picture Show“ erschafft die Hauptfigur Frank’N’Furter einen idealen Mann, der sich ebenfalls von seinem Schöpfer abwendet. Während hier kein Zweifel am sexuellen Interesse des Schöpfers besteht, bleiben die historischen Beispiele etwas zurückhaltender, es bleibt bei ein paar zärtlichen Berührungen und einem offenen Bekenntnis des Älteren am Ende der Filme, von denen Sie heute nur eines sehen werden.

Wir haben es den mutigen Künstler*innen und Aktivist*innen eines ganzes Jahrhunderts zu verdanken, das wir heute einen gleichermaßen künstlerischen, spielerischen wie auch reflektierenden Umgang mit Geschlechtsidentitäten im Film erleben können. Das Filmfestival bringt Ihnen die Anfänge dieser einzigartigen Filmgeschichte näher, die heute in den zahlreichen queeren Filmfestivals gefeiert und weitergeschrieben wird.

 


Gezeigt und vorgetragen im Rahmen des 1. Filmerbefestivals "Als QUEER schwarz-weiß war" im Filmmuseum Potsdam

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